Zur Israel-Theologie von N.T. Wright

Stellungnahme der Israelwerke Schweiz (IWS)

  1. Warum wir Stellung nehmen?

    1. N.T. Wright (NTW) ist ein Theologe, dem in unserem Land durch Einladungen zu Vorträgen und Verbreitung seiner Literatur beträchtliche Einflussmöglichkeiten gegeben wurden. Durch den hohen Stellenwert, den er als akademischer Lehrer dem Geschehen in Tod und Auferstehung Jesu Christi gibt, hat er viele Studierende und Verkündiger stark angesprochen. Gäbe es in seinen vielen guten Ausführungen nicht Aussagen, die wenn auch nicht sofort erkennbar erhebliche Folgen für das Verständnis der biblischen Botschaft haben, müssten wir uns nicht damit befassen. Nun aber gibt es bei ihm Auslegungsschritte, die unserem Anliegen eines schriftgemässen Verständnisses von Volk und Land Israel erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Es ist uns darum wichtig, unsere Mitchristen darauf aufmerksam zu machen.

    2. In seinen Studien, die besonders die Zeit des 2. Tempels betreffen, kommt NTW zum Schluss, dass die dem Volk Israel gemäss dem Zeugnis des Alten Testaments gegebenen Verheissungen durch das Leben und Wirken Jesu Christi erfüllt worden sind gemäss Worten wie 2. Kor. 1,20: «Er ist das Ja zu allem, was Gott verheissen hat. Darum rufen wir durch ihn zu Gottes Lobpreis auch das Amen». Das ethnische Israel hat darum nach dem Kommen Christi keine heilsgeschichtliche Bedeutung mehr. Diese ‹Erfüllungstheologie› hat gleiche Folgen wie die uns bekannte ‹Ersatztheologie›, die sagt, dass die Kirche das ‹neue Israel› sei, welche das ‹alte› ersetze. Die Variante ‹Erfüllungstheologie› ist aber verwirrender, weil im Christus-Geschehen gemäss dem biblischen Zeugnis tatsächlich viele Verheissungen in Erfüllung gegangen sind. Viele ganz Wesentliche aber noch nicht.

    3. Die Reaktionen auf den Gaza-Konflikt, der im vergangenen Sommer infolge der Medienberichte die ganze Welt bewegte, haben erschreckend deutlich gezeigt, wie wichtig die Vermittlung biblischer Perspektiven für die Meinungsbildung sind. Dieser Aufgabe wissen wir uns verpflichtet.

  2. Die Israel betreffende Position von N.T. Wright

    1. Tod und Auferstehung Jesu als Erfüllung Israel gegebener Verheissungen: NTW sagt, dass die Verheissungen an Israel (Zum Beispiel: die Rückkehr aus dem Exil, die Rückkehr Jahwes nach Zion, ein Leben im Gehorsam gegen Gott und die Ausgiessung des Geistes) in und durch Jesus in Erfüllung gekommen sind, denn er ist der Messias Israels und als solcher der Repräsentant des Volkes. Er schreibt: «Das Exil ging katastrophisch zu Ende, als Jesus, Israels repräsentativer Messias, ausserhalb der Mauern Jerusalems starb und den Fluch bis zum Äussersten trug, der im heidnischen Exil bestand. Die Rückkehr aus dem Exil begann, als Jesus, wiederum als Israels repräsentativer Messias, drei Tage später aus dem Grab auftauchte. (...) Israels Gott hatte seinen eigenen Geist auf alles Fleisch ausgegossen; sein Wort war unterwegs zu allen Nationen; er hatte ein neues Volk ins Leben gerufen, das aus allen ethnischen Gruppen und sozialen Klassen sowie ohne Unterschied aus beiden Geschlechtern bestand. Diese Hauptmerkmale der paulinischen Theologie ergeben nur innerhalb einer grossangelegten Nacherzählung der wesentlich jüdischen Story Sinn, die nun aus der Sicht von jemandem betrachtet wird, der glaubt, dass der Höhepunkt der Story bereits erreicht worden sei und dass die Zeit bereits gekommen sei, um das Erreichte zu verwirklichen. (...) Eine weitere kommende Erfüllung stand jedoch ganz klar noch aus. (...) Die Erzählung braucht ein Ende, und Paulus deutet in dieser (Röm. 8,18-27) und anderen Passagen dieses Ende an: Die Schöpfung als Ganze wird von ihrer Versklavung an den Verfall befreit werden. Der Exodus Israels war ein Modell für den Tod und die Auferstehung Jesu, und beide weisen auf einen grösseren Exodus voraus, der noch kommen wird, wenn der ganze Kosmos aus seinem Ägypten befreit wird, aus seinem gegenwärtigen Zustand der Sinnlosigkeit.» (Zitate aus NTW: Das Neue Testament und das Volk Gottes, S. 516/517).

    2. NTW ist ein führender Vertreter der ‹neuen Paulusperspektive›. Diese geht davon aus, dass Paulus das Judentum seiner Zeit nicht richtig verstanden habe. Darum müsse er neu interpretiert werden. Das führt zu allerhand Akzentverschiebungen (z.B. beim Verständnis der Thora und bei dem der Rechtfertigung durch den Glauben). Die ‹Ausschaltung› Israels als Volk nach der Zeit der Apostel und die Universalisierung der Landverheissungen (das Land gehört allen!) zählt zu den Gravierendsten. Es verwundert darum nicht, dass er sich explizit gegen den Zionismus ausspricht, gegen den jüdischen und den christlichen. (NTW in «The Way of the Lord: Christian Pilgrimage, London SPCK 1999, Seite 119 -130)

  3. Kritisch zu vermerken ist vo allem folgendes

    1. Die von NTW eingeführte Deutung des Heilsgeschehens im Messias Jesus ist was die Rolle des realen Volkes Israel anbelangt hypothetisch und hat keine biblische Grundlage. Sie widerspricht auch völlig der realen Geschichte, die sich von damals bis heute entwickelt hat. Israel ist nach dem grössten Vernichtungsversuch in seiner Geschichte wieder lebendig präsent im Land seiner Väter. Gottes Handeln in seinem Sohn Jesus, dem Christus, wird nirgends im biblischen Wort verstanden als Ende des Dienstes, zu dem Israel von seinem Gott berufen worden ist (Röm. 11,2). Viele Passagen in der Bibel, auch in den Schriften des NT (Apostelgeschichte, Römerbrief, Offenbarung), reden von einer bleibenden Präsenz Israels in der Welt und von deren grosser Bedeutung in der Vollendung der göttlichen Ziele.

    2. Mit dem Kommen Jesu Christi wurden Israel gegebene Verheissungen nicht nur erfüllt, sondern auch bestätigt. Beispiel: Römer 15, 7-13. Jesus ist ein Diener der Beschnittenen geworden. Die Treue und Wahrhaftigkeit Gottes ist ein wichtiger Teil in der Verkündigung der Frohbotschaft geworden.

    3. Der Apostel Paulus bezeichnet die Vorgänge in der Geschichte Israels als ein Geheimnis. Dieses wird nicht durch menschliche Einsicht ergründet (Röm. 11,25f.), sondern durch göttliche Offenbarung. Diese Geschichte weist verschiedene Zeit-Abschnitte auf. Das Geschehen hat einen tiefen Sinn. Ohne Verständnis der Wege Gottes mit Israel verliert unsere Eschatologie ihr biblisches Profil und unser Glaube die Zuversicht.

    4. DIE VON NTW VERBREITETE «ERFÜLLUNGSTHEOLOGIE» HAT, WO SIE AUFGENOMMEN WIRD, SCHWERWIEGENDE AUSWIRKUNGEN AUF UNSERE GESELLSCHAFT: Sie führt dazu, dass wir uns den wieder zunehmenden Problemen des Antisemitismus nicht stellen und die von den Christen mit verursachten schrecklichen Geschehnisse um den Holocaust unbeachtet lassen und eine Mitverantwortung dafür ablehnen. Durch die Ersatz- und Erfüllungstheologie werden wir in unserer Haltung gegenüber dem Staat Israel irregeführt und verfehlen den Dienst, den wir den jüdischen Menschen unserer Zeit schuldig sind.

Robert Währer